Die Legende von Izara
Menschliche Seelen nähren die Primus, doch in ihrem Besitz vergehen sie. Deshalb entstand aus Sehnsucht – oder auch Habgier – der Mythos einer nie erlöschenden Seele, ein ewiges Feuer, das ihre Macht endlos speisen könnte: Izara.
Die vollständige Legende umfasst zwei Teile. Im ersten geht es um die Entstehungsgeschichte von Izara, während der zweite Teil sich mit dem Aufstieg eines Tyrannen befasst, der durch das ewige Feuer unbesiegbar wurde.
Hier der Abschnitt, den Lucian Ari (Band 1/Kapitel21) erzählt:
Einst gab es einen Jungen, der Nacht für Nacht den Sternenhimmel beobachtete. Er fror erbärmlich, denn es war bitterkalt. Und die funkelnden Lichter dort oben verhießen so viel Wärme, dass der Junge eines Nachts hinaufstieg und sich einen der Sterne vom Firmament pflückte. Kaum hielt der Junge den Stern in seinen Händen, flossen die wärmenden Strahlen durch seine zitternden Finger. Erstaunen packte ihn. Er hatte noch nie eine solche Wärme gespürt. Nur überdauerte dieses Gefühl nicht lange, denn schon bald war der Stern verloschen. Der Junge versuchte es bei einem weiteren und noch einem und noch einem. Aber keines der Himmelslichter behielt sein Strahlen, sobald der Junge sie berührte. Und so kroch die Kälte wieder in seine Glieder, und er stieg enttäuscht vom Himmel herab. Als er seiner Mutter von der unglaublichen Entdeckung erzählte, lächelte sie ihn liebevoll an. ‚Die Sterne leuchten nicht nur für dich, mein Sohn‘, sagte sie zu ihm. ‚Lass sie dort und erfreue dich an ihrem Anblick.‘ Aber der Junge wollte nicht auf seine Mutter hören. Er war überzeugt davon, dass er einen Stern vom Himmel holen konnte, ohne dass dieser erlosch. Also stieg er in der nächsten Nacht wieder hinauf, ebenso in der darauffolgenden und der danach. Erst holte er sich die Sterne mit Gewalt, dann lockte er sie, erfüllte ihre Wünsche, versprach ihnen alles, was sie hören wollten, solange sie ihm nur ihr Strahlen schenkten. Er ließ nichts unversucht, aber die Sterne konnten nicht verschenken, was ihnen nicht gehörte.
Als nur noch ein Stern übrig war, kletterte der Junge ein letztes Mal hinauf. Er zerrte und rüttelte an dem Stern, aber der bewegte sich nicht von der Stelle und erlosch auch nicht. Verärgert rief der Junge: ‚Wenn du mir dein Strahlen schenkst, gebe ich dir alles, was du willst.‘ Doch der uralte Stern lachte nur. ‚Was ich will, liegt nicht in deiner Macht‘, sagte er. Der Junge ließ nicht locker. In seinem jugendlichen Übermut war er so überzeugt von der Fülle seiner Kräfte und Fähigkeiten, dass er herablassend zu erfahren verlangte, was denn der letzte Stern wollte. ‚Mach, dass all meine Freunde wieder erstrahlen‘, meinte der. Doch das konnte der Junge nicht. Und er wurde plötzlich sehr traurig, denn erst jetzt wurde ihm bewusst, dass all die wunderschönen Sterne mit ihrem einzigartigen Strahlen für immer verschwunden waren. Er weinte bitterlich. Gerührt von der Einsicht des Jungen fing der alte Stern eine seiner Tränen auf. Er füllte sie mit seinem Licht an, bis daraus selbst ein kleiner, funkelnder Stern wurde. Dann sah er den Jungen an und fragte mit ernster Miene: ‚Wenn du die Wahl hättest, all die Sterne wieder am Himmel erstrahlen zu sehen oder diesen einen, der für dich gemacht ist und nie erlischt, mit nach Hause zu nehmen, was würdest du tun?‘ Der Junge zögerte. ‚Ich weiß es nicht‘, sagte er schließlich. Der alte Stern nickte. ‚Ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Triff deine Entscheidung weise, denn ich werde dann nicht mehr sein. Wir sind viele, aber dennoch eins.‘ Und da begann der alte Stern zu glühen. Er wuchs und wuchs. Und schließlich zerbarst er in Millionen und Abermillionen kleiner Stücke. Aus jedem dieser Stücke wuchs ein neuer Stern.
Seitdem saß der Junge Nacht für Nacht auf der Erde und betrachtete den Sternenhimmel. Er wusste, einer dieser Sterne gehörte ihm. Der Stern, der nie verlöschen würde. Izara. Er fror entsetzlich, aber er stieg nie wieder hinauf, um danach zu suchen.